„Gebt uns Euren Schrott“: Armee der Ukraine wächst und steht bald ohne Panzer da (2024)

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Von: Karsten-Dirk Hinzmann

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Selenskyj erhöht die Truppenstärke – aber die Ukraine fragt sich inzwischen, womit ihre Soldaten an die Front fahren sollen. Upcycling könnte helfen.

Charkiw –„Der Feind ist uns zahlenmäßig um das Sieben- bis Zehnfache überlegen, es mangelt uns an Personal“, sagte Generalleutnant Jurij Sodol. Der Frontkämpfer der Ukraine hatte sein Parlament über die missliche Lage informiert, worüber die Süddeutsche Zeitung berichtet hat. In der Front gegen die Invasionstruppen von Wladimir Putin entstünden dadurch riesige Löcher. „Wir halten unsere Verteidigung mit letzter Kraft aufrecht“,so Sodol im Parlament in der Übersetzung der SZ. Truppen, die 15 Kilometer lange Frontabschnitte verteidigen müssten, könnten faktisch höchstens fünf Kilometer halten, führt die Zeitung weiter aus.

Der Druck für Präsident Wolodymyr Selenskyj steigt jetzt aber plötzlich auch an einer zweiten Front –der Ausrüstung. Das Magazin Forbes prophezeit, dass die Lücke, die das jetzt beschlossene Mobilisierungsgesetz schließen soll, einen anderen Mangel offenlegen könnte: die fehlenden gepanzerten Fahrzeuge; Panzer genauso wie Schützenpanzer. Die Einheiten, die im Osten als „mechanisierte Verbände“ oder „motorisierte Schützen“ betitelt werden, führt die Bundeswehr unter dem Titel „Panzergrenadier“. Diese Truppengattung entspringt der Initiative es deutschen Panzergenerals Heinz Guderian am Anfang des Zweiten Weltkrieges, wie die Bundeswehr ausführt.

„Die Ukrainer sind bereit, selbst Schrott zu nehmen, ihn zu zerreißen und aus drei Maschinen eine zu machen. Das ist etwas, das unsere Soldaten schützen kann.“

„Sein Konzept sah dabei vor, den Panzerverbänden beim Vorrücken alle notwendige Unterstützung mitzugeben. Dazu gehörten Pioniere, Artillerie, Instandsetzung und eben auch Infanterie. FürdiePanzergrenadiere plante er, dass diese mit einem speziellen gepanzerten Fahrzeug, dem Schützenpanzer, ausgerüstet werden und mit dem sie auf- und abgesessen kämpfen sollten.“ In der Bundeswehr gilt die Doktrin des „Gefechts der verbundenen Waffen“: Infanteristen sind ohne gepanzerte Fahrzeuge ebenso schutzlos, wie gepanzerte Fahrzeuge schlechte Chancen gegen Infanteristen mit Panzerabwehrwaffen haben.

Mangel an allen Fronten: Die Ukraine braucht das Zehn- bis Hundertfache an Unterstützung

„Die USA haben 31 Panzer geliefert – die Ukraine bräuchte 3.100, um Gebiete zurückzuerobern“, kreischt aktuell der Stern. Allerdings steckt dahinter durchaus Wahres. Das Magazin Militaryland hat Anfang April über die Umfirmierung einer mechanisierten zu einer Infanterie-Brigade berichtet: „Die 153. Mechanisierte Brigade ist nicht mehr mechanisiert“ –vermutlich hänge das mit dem Mangel an Infanterie-Kampffahrzeugen zusammen, vermutet Militaryland. Das Problem sei bekannt und gründe in dem fehlenden Nachschub an Fahrzeugen. „Die verbleibende ,freie‘ mechanisierte Ausrüstung wird nun motivierten Einheiten zugeteilt, die sich im Kampf bewährt haben“, schreibt das Magazin.

Rund 7500 Fahrzeuge aus Beständen von Nato-Staaten soll die Ukraine erhalten haben, wie Forbes auf der Basis von Zahlen der Statistik-Plattorm Orix meldet. Dazu hatten sie Tausende in eigenen Beständen gehabt; 5000 Stück sollen inzwischen verloren gegangen sein. Die hohen Verluste der Ukraine werden zum Teil aus dem falschen Einsatz resultieren. Nach einem Bericht der New York Times hatte sich die Nato offenbar verschätzt mit dem Tempo, in dem die Ukraine die im Westen eingeübten Taktiken umsetzen konnte. Weder Schützen- noch Kampfpanzer werden im Gefecht allein eingesetzt, sie bilden die Spitze eines Angriffs-Keiles in einem Gefechtsverband.

Mangel über alle Maßen: Die Ukraine ist Putin häufig ins offene Messer gelaufen

In diesem Verbund erzielen sie den höchsten Effekt beziehungsweise den höchsten Einsatzwert, mit dem sie flexibel und schlagkräftig über mehrere Kilometer Breite verteidigen oder angreifen können, wie das Magazin Defense Network berichtet. Je nach Größe des Gefechtsverbandes setzt er sich aus etwa 40 bis 60 Gefechtsfahrzeugen zusammen – meist im Verhältnis 1:1 oder 1:2 zwischen Kampf- und Schützenpanzern. „Den Nukleus und die Spitze bilden dabei die Kampf- und Schützenpanzer, die in Kompanien – taktisch ,Manöverelemente‘ genannt – zusammengefasst werden. Sie sind es, die dem Gegner im direkten Kampf auf- und abgesessen begegnen und das direkte Feuer zur Wirkung bringen“, erläutert Defense Network weiter.

Dahinter folgt beispielsweise die Artillerie, die die Verteidiger aus dem Hintergrund heraus niederhält. Allerdings wird der Ukraine angekreidet, dass sie eher wieder auf Taktiken des Ostblocks umgeschwenkt war und in kleineren Gruppen angegriffen habe. Beispielsweise sollen dadurch auch die schweren Kampfpanzer des Westens relativ schutzlos gekämpft haben, was sie besonders in den Minenfeldern hat angreifbar werden lassen. Das führt zu einer ausgedünnten Flotte für eine jetzt wieder wachsende Armee: 10.000 bis 20.000 neue Soldaten will Präsident Wolodymyr Selenskyj jetzt allein aus Gefängnissen rekrutieren, nachdem er sein Mobilisierungsgesetz verabschiedet hat –das berichtet die BBC Ukraine.

Mobilisierung über Mauern hinweg: Selenskyj rekrutiert jetzt auch in Gefängnissen

Laut der Süddeutschen Zeitung wird das neue Mobilisierungsgesetz ingesamt rund 100.000 neue Soldaten für die ukrainische Armee bedeuten. Mit denen wird sich die Herausforderung der Mobilität noch erhöhen –wahrscheinlich weniger in der momentanen Situation der Verteidigung, aber spätestens, wenn die Ukraine von Russen besetzte Territorien wieder zurückgewinnen will. „Eine der wichtigsten Waffen im Ukraine-Krieg heisst LKW“, hat die Neue Zürcher Zeitung im Anfang vergangenen Jahres berichtet –mit dem Fokus auf die Russen. Allerdings gilt das für die Ukraine genau so.

„Damit die ukrainischen Truppen die festgefahrene Situation in den Schützengräben durchbrechen und die russischen Truppen aus ihren Befestigungen vertreiben können, benötigen sie alle Voraussetzungen für eine echte mechanisierte Offensive mit kombinierten Waffen: Panzer, Infanterie in gepanzerten Fahrzeugen, die mit den Panzern Schritt halten können, selbstfahrende Artillerie, Kampfingenieure und Brückenbauausrüstung und auch Versorgungsfahrzeuge“, schrieb Experte Michael Peck im vergangenen Jahr im BusinessInsider –ohne Fahrzeuge kein Schwung, ohne Schwung keine weitere Gegenoffensive –kein Ende des Krieges.

Der rüstungspolitische Journalist Peck identifiziert den Mangel der ukrainischen Großverbände vor allem in der Möglichkeit zügiger Mobilität durch die schwer bewaffneten Schützenpanzer wie dem us-amerikanischen M2-Bradley, dem deutschen Marder oder dem sowjetischen BMP, wie er schreibt. Ein Trostpflaster klebt aktuell die niederländische Regierung mit der Lieferung ihrer Variante des alten us-amerikanischen Schützenpanzers M-113, dem niederländischen YPR-765. Den bisher gelieferten 207 Stück folgt eine Tranche unbekannter Anzahl in absehbarer Zeit.

Material in jedem Zustand: Ukrainische Politikerin sammelt auch den Schrott zusammen

Lang ersehnte Hilfe wird auch aus Kanada zuteil, wie Forbes berichtet – Altmetall zum Upcycling. Allerdings entzündete Forbes-Autor David Axenur ein Flämmchen der Hoffnung: „Die Ukraine braucht weitere 1000 gepanzerte Personentransporter. Kanada braucht ein Jahr, um 50 zu liefern“, schrieb er –um zu ergänzen: In der gleichen Zeitspanne würde die Ukraine das Zehnfache davon verloren haben. Kanadas Armee wie auch die Armee Neuseelands nutzt den leichten Schützenpanzer LAV III, will ihn jetzt austauschen und gibt die Altbestände ab.

Insgesamt 89 Fahrzeuge hatte Kanada der Ukraine nach Ausbruch des Krieges versprochen, die erste Tranche von 39 Stück rollte dann auch schnell an. Zehn weitere werden in diesem Jahr nach Europa geliefert werden. Für wann die restlichen Exemplare avisiert sind, lässt Forbes offen. Allerdings hatte die kanadische Regierung Ende vergangenen Jahres 400 Exemplare verschrotten wollen, wie Axe schreibt –mit dem Hinweis auf deren desolaten Zustand nach der jahrzehntelangen Beanspruchung –das Material hatte Einsätze im Kosovo genau so durchgestanden wie in Afghanistan.

Die Ukraine hat aber gegen das Zaudern der Kanadier angekämpft, wie CBC News von Oleksandra Ustinova berichtet –die Vorsitzende der Rüstungskommission hatte sich zum Upcyclen angeboten: „Die Ukrainer sind bereit, selbst Schrott zu nehmen, ihn zu zerreißen und aus drei Maschinen eine zu machen. Das ist etwas, das unsere Soldaten schützen kann.“

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